Immer wenn es regnet

Geschichte über das Dranbleiben und Durchhalten.

Paula mag Bäume. Sie ist mit ihnen groß geworden. Obstbäume waren ein wesentlicher Bestandteil der Landwirtschaft ihrer Eltern. Schon als Kind hat sie fleißig mitgearbeitet. Daraus entwuchs ihre Leidenschaft, Bäume zu pflanzen und sich liebevoll um sie zu kümmern. 

Geschichte über das Dranbleiben und Durchhalten

Nie wird sie den Tag vergessen an dem sie damals, noch keine zehn Jahre alt und voller kindlicher Ungeduld, den Wachstumsprozess eines kleinen Apfelbaums beschleunigen wollte, in dem sie daran zog. Die zarten Wurzeln lösten sich aus der Erde und das Bäumchen überlebte es nicht.

 

Damals versprach sie, sich nie wieder an einem Baum zu vergreifen. Heute ist Paula erwachsen. Ihrem Versprechen ist sie treu geblieben. Bis sie eines Tages seltsame Stimmen hört.

 

An einem spätsommerlichen Samstag war Paula wie so oft bei ihren Eltern zu Besuch. Hinter dem Haus gibt es eine große Wiese mit Apfelbäumen, Birnenbäumen und Zwetschgenbäumen.

 

Zuerst kommen die großen Bäume. An denen geht Paula meistens zügig vorbei. Sie hat wenig Interesse an den erwachsenen Bäumen und dem reifen Obst. Am liebsten sieht sie nach den Jungbäumen ganz am Rand der Wiese. Denn bei ihnen kann man am schönsten beobachten, wie sie wieder gewachsen sind. Dort ist sie in ihrem Element. Auch an jenem Samstag.

 

Sie wandert zwischen den vielen kleinen  Bäumen umher. Sieht sich genau an, wie stark sie gewachsen sind und erfreut sich an den jungen grünen Blättern. Als es dunkel wird und zu regnen beginnt, kehrt sie zum Haus zurück.

 

„Paula, Paula!“, flüstert es plötzlich zwischen den Bäumen hervor. Sie erschrickt und dreht sich in alle Richtungen. Niemand da. Sie muss sich getäuscht haben und geht schnell weiter.

 

„Paula, warte!“, hört sie es wieder. Erschrocken blickt sie sich noch einmal um.

 

„Paula, bleib hier, habe keine Angst!“. Sie erstarrt fast vor Schreck und etwas anderes als Stehenbleiben ist ihr sowieso nicht möglich.

 

„Paula, drehe dich um, ich bin es, der Baum.“ Paula meint zu träumen, aber es ist einfach zu real. Sie zweifelt auch nicht lange und fragt: „Du sprichst mit mir, wie ist das möglich?“ Und der Baum antwortet: „Immer wenn es regnet, habe ich genug Kraft, um mit Menschen zu sprechen. Doch meistens hören mich die Menschen gar nicht. Aber du bist anders. Du hörst mich.“

 

Paula spürt ein vertrautes Gefühl, so als ob sie es immer schon gewusst hätte, dass dies möglich ist und antwortet: „Ja, ich höre dich.“ Dabei wird ihr wohlig warm und sie stellt sich wieder ganz nah an den Baumstamm.

 

„Paula, du kümmerst dich so liebevoll um uns, und wir danken es dir, in dem wir viele Früchte produzieren. Doch immer wenn wir groß werden und richtig viele Früchte produzieren, wendest du dich von uns ab. Warum? Bedeuten wir dir auf einmal nichts mehr?

 

„Doch, und wie!“, antwortet Paula und flüstert: „Ich bewundere unsere Nachbarn und meine Mutter, was sie Köstliches daraus machen. Und es tut mir sehr leid, wenn so viel Obst liegen bleibt. Ich wünschte, ich würde nicht so viel verfaulen lassen und selbst auch etwas daraus machen.“

 

„Warum machst du es dann nicht?“, wundert sich der Baum.

 

„Na ja, wenn das Obst reif wird, bin ich schon wieder mit einem neuen Baum beschäftigt. Mich begeistern diese schnellen Fortschritte gleich zu Beginn so sehr, dass ich die älteren Bäume leider vernachlässige. Irgendwie möchte ich das in den Griff bekommen, damit die Mühen einmal Früchte tragen. Früchte, aus denen auch ich etwas mache.“

 

„Siehst du, Paula. Du würdest gerne mehr von deinen Bemühungen haben. Aber dein innerer Drang, immer etwas Neues zu erschaffen, hält dich davon ab, lange genug bei einem Baum zu bleiben. Deshalb überlässt du das Pflücken anderen - oder das Obst sogar verfaulen.“

 

„Ja, da hast du sicher Recht, mit dem inneren Drang. Es fällt mir schwer, wo länger dabeizubleiben und es einfach nur reifen zu lassen. Das ist nicht nur bei den Bäumen so. Ich habe das halt so gelernt, dass man fleißig sein muss. Am besten kann ich das, wenn ich mit etwas ganz von vorne anfange und …“

„… psst, sonst hören deine Eltern noch, wie du mit einem Baum sprichst!“, unterbricht sie der Baum. „Weißt du was Paula, komm einfach mal her und lehne dich bei mir an, ich möchte dir etwas zeigen.“

„Okay, wenn du meinst.“, sagt Paula ganz leise, während sie sich eine trockene Stelle sucht und sich mit ihrem Rücken sanft gegen die Baumrinde drückt.

 

„Spürst du das?“, fragt der Baum.

 „Ja, ein angenehmes Kribbeln.“, antwortet Paula.

 

Und der Baum erklärt ihr: „Dieses Kribbeln ist meine Energie, die ich nun durch dich strömen lasse. Von den Wurzeln durch dich hindurch, bis hinauf in meine Krone, bis in jede Blattspitze. Diese Energie gibt mir die Stabilität, immer hier zu stehen, bei jedem Wetter, zu jeder Jahreszeit, und jedes Jahr neue Früchte zu produzieren. Hier kannst auch du dich auftanken, um ein Stück meiner Stabilität zu erhalten, damit auch du so lange an deinen Plätzen verweilen kannst, bis du dort das erhältst, was du dir vorgenommen hast. Ob das das Pflücken von reifen Früchten ist, das Backen eines Kuchens oder etwas ganz anderes in deinem Leben: Diese Stabilität wird dir helfen. Und diese Stabilität wird immer mehr, je öfter du an deinen Projekten lange genug dranbleibst und deine Früchte erntest.“

 

Paula genießt diese Verbindung. So kennt sie sich gar nicht. Einfach nur dazustehen und den Moment genießen. Langsam löst sie sich wieder und fühlt sich gestärkt. Dieses Gefühl verändert auch ihre Gedanken und Ideen. Sie beschließt, die Ernte ihrer Früchte ab jetzt als Teil ihres Engagements zu betrachten und lange genug bei ihren Bäumen zu bleiben. Als sie im Bett einschläft, ist es bereits mitten in der Nacht.

 

„Paula, Frühstück ist fertig!“, ruft ihre Mutter ins Schlafzimmer. Schlaftrunken macht sie sich fertig und kommt runter in die Stube, wo schon alles am Tisch steht.

 

„Na?“, fragt der Vater, „Seit wann bist du denn so eine Langschläferin?“. Paula erzählt den Eltern von einem wunderbaren Traum, den sie hatte. Und dass sie heute einen Pflaumenkuchen backen wird. Doch davor möchte sie noch einmal raus zu ihren Bäumen.

 

 

„Aber es regnet doch, Schatz.“, sagt die Mutter. Und Paula antwortet mit einem glücklichen Gesichtsausdruck: „Ich weiß, Mama.“


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