An den pfeifenden Wind und die Schnarchgeräusche der Männer neben mir habe ich mich schon fast gewöhnt. Aber diese Flüssigkeit, die ständig von der Zeltdecke tropft, raubt mir endgültig den
Schlaf. Ist das etwa unser eigener Dunst? Diesen Gedanken finde ich ekelig. Der Ekel wird noch verstärkt, als jemand neben mir seine Notdurft mit einer Plastikflasche verrichtet. Ich möchte nur
noch raus aus diesem Zwei-Quadratmeter-Zelt, in dem wir zu dritt, mehr übereinander als nebeneinander, in unseren Schlafsäcken liegen. Endlich ist es 03 Uhr morgens - Zeit zum Aufstehen.
Geschlafen habe ich sowieso nicht und ich krabble langsam aus dem Zelt. Die Flüssigkeit war nicht unser eigener Dunst, sondern der Frost, der unser Zeltlager bedeckt. Ich stehe unter einem
gigantischen Sternenhimmel im Hochlager Nido de Condores auf 5500 Höhenmeter am Aconcagua in Argentinien, der mit 6962 Meter der höchste Berg Amerikas ist. Heute, am 12. Februar, ist unser
Gipfeltag. Und mein Geburtstag.
Selbsterfahrung der besonderen Art
Seit zehn Tagen bin ich Teil einer deutsch-österreichischen Expedition von DIAMIR Erlebnisreisen in den argentinischen Anden mit dem Aconcagua als Ziel. Auf der Normalroute ist dieser Berg
technisch keine große Herausforderung. Aber durch die enorme Höhe und die langen Etappen eine mentale und physische Kraftprobe. Das ist auch das Motiv meiner Teilnahme: Mich selbst in einer
Ausnahmesituation erleben und dabei erfahren, welche Ressourcen in mir schlummern, die ich im normalen Alltag vermutlich nie kennenlernen würde.
Grenzgang für Geist und Körper
Unser Basislager Plaza de Mulas lag auf 4300 Meter. Von dort aus planten wir die letzten Tage unseren Gipfelsturm. Dazu zählten fast tägliche Akklimatisationstouren auf verschiedene Höhen, um den
Körper langsam an den sinkenden Sauerstoffgehalt im Blut zu gewöhnen. Nicht selten enden zu schnelle Aufstiege tödlich. Nur wenn der Arzt im Basislager die Anpassung bestätigte, gab es grünes
Licht für die weitere Expedition. Neben der Akklimatisation ist der zweite wichtige Faktor das Wetter. Jeden Tag wurden die Prognosen ausgewertet. Eigentlich wollten wir uns noch besser
akklimatisieren, aber durch eine Schlechtwetterprognose mussten wir den Gipfeltag vorverlegen.
Höchstleistung unter erschwerten Bedingungen
Am 11. Februar wurde es ernst: Zelte, Kochausrüstung und Lebensmittel wurden vom Basislager ins Hochlager auf 5500 Meter getragen und aufgebaut. Von dort sollte am nächsten Morgen der
Gipfelsturm beginnen. In dieser Höhe ist jeder Handgriff Anstrengung pur. Was im Tal ein Kilo wiegt, hat hier gefühlte vier Kilo. Schnell mal ein Zelt aufbauen? Irrtum! Durch den Wind und die
schnelle Erschöpfung dauerte ein Zelt bis zu zwei Stunden. Für den gesamten Wasserbedarf suchten wir sauberen Schnee, den wir mit einem Eispickel zerkleinert, in Müllsäcke gestopft und zum
Zeltlager getragen haben. Schnauf! Das Schmelzen am Gaskocher dauerte Stunden. Jetzt noch schnell eine Lastminute-Akklimatisationstour ins Lager Berlin auf 5950 Meter, rasch wieder runter und
völlig erschöpft rein in den Schlafsack. Kaum jemand glaubte noch an den morgigen Gipfelerfolg. Die Meisten sollten Recht behalten.
Schön, aber auch gefährlich
Es ist vier Uhr morgens, die Stirnlampen leuchten und wir marschieren los. Ich weiß nicht, was gerade beeindruckender ist: Die hell strahlende Milchstraße über uns oder der Gipfel, der vor uns in
den Nachthimmel ragt. Wow, jetzt an diesem Ort zu sein, entschädigt bereits alle bisherigen Strapazen. Bei diesem Gedanken habe ich aber keinen Schimmer, welche Anstrengung noch vor mir liegt.
Bereits eine halbe Stunde später kommt es zum ersten Zwischenfall: Ein russischer Bergsteiger befindet sich weit unterhalb des Weges in einer lebensbedrohlichen Lage. Gemeinsam mit meinem Guide
kann ich ihn mit viel Mühe zurück auf den Weg bringen. Später wurde er mit dem Helikopter ins Krankenhaus gebracht, er überlebte. Meine Gruppe ist jetzt weg. Mein Guide ist beim Russen geblieben.
In der Dunkelheit verliere ich trotz Stirnlampe selbst die Orientierung und stehe plötzlich irgendwo im Gelände. Nur mit fremder Hilfe finde ich den Weg wieder. So, jetzt kann es endlich auch für
mich losgehen! Bei Tagesanbruch habe ich meine Gruppe längst überholt und gehe konstant mein eigenes Tempo.
Der Gipfel als Etappenziel
Die Canaleta ist in Sichtweite. Eine Schlüsselstelle auf 6600 Meter! Rund 250 Meter sind auf einer bis zu 45 Grad steilen Neigung zu bewältigen. Wer das schafft, für den ist der Gipfel das
nächste Etappenziel. Oben angekommen spüre ich die Höhe: Schwindel und komplette Kraftlosigkeit! Fünf Schritte gehen …Verschnaufpause - das ist mein Rhythmus für die letzten hundert Meter. Mehr
geht nicht mehr. Der Gipfel ist jetzt ein Steinwurf entfernt, aber für mich unendlich weit weg. Nach einer Stunde Stop and go sind es nur noch ein paar Stufen bis auf das Gipfelplateau. Davor
noch einen Energieriegel, sonst rühre ich mich nicht mehr vom Fleck. Aber dann … um 14:15 Uhr erreiche ich das Gipfelkreuz und umarme Josef Sattlecker aus Oberösterreich. Wir beide und noch ein
Mann aus Bayern sind die Einzigen unserer 12-Mann-Gruppe, die es bis zum Gipfel geschafft haben. Der Gipfel ist aber nur ein Etappenziel. Das Endziel lautet: Gesund hinunter kommen! Bei Einbruch
der Dunkelheit ist auch das geschafft. Ich krabble zurück in mein Zelt - und verbringe dort die nächsten vierzehn Stunden tief schlafend…

Der Aconcagua (6964 m) aus der Ferne.

Der Anmarsch zum Berg erfolgte u.a. über ein ausgetrocknetes Flussbett. Da man sich hier schon auf über 3000 Meter bewegte, war es wichtig, nicht zu schnell zu gehen, um sich optimal zu
akklimatisieren. Und natürlich ausreichend Sonnenschutz war erforderlich, da man durch den kalten Wind leicht darauf vergaß, dass die Sonne sehr stark ist.

Ankunft im Basislager Plaza de Mulas auf 4300 Meter! Von dort starteten wir verschiedene Akklimatisationstouren auf verschiedene Höhen und kehrten immer wieder ins Basislager zurück. Rund 150
Bergsteiger aus vielen Teilen der Erde hielten sich dort auf.

Das Basislager befindet sich am Fuße des Aconcagua. Von dort blickten wir also jeden Tag auf diesen felsigen Riesen. Die Abendsonne färbte ihn auch mal rot.

Das Hochlager Nido de Condores auf 5500 Meter war in den letzten Tagen schon mal Ziel einer Akklimatisationstour. Auch am Vortag des Gipfeltages stiegen wir ins Nido hoch, um dort zu
übernachten - und genug Schnee für die Gipfeletappe zu schmelzen. Dieser Schnee musste von Schneefeldern im näheren Umkreis zu den Zelten transportiert werden.

Sonnenuntergang auf 5500 Meter im Hochlager! In wenigen Stunden sollte es schon losgehen Richtung Gipfel.

Gipfelerfolg am 12. Februar 2014 am Nachmittag. Der höchste Punkt Amerikas ist erreicht!

Gruppenfoto der gesamten Expeditionsgruppe! Nach dem Gipfeltag gab es einen Schneeeinbruch bis ins Basislager runter. Außer mir haben es noch Josef aus dem Innviertel (vordere Reihe mit gelben
Kragen) und Andreas aus Bayern (vordere Reihe mit blauer Jacke) bis zum Gipfel geschafft. Wir drei und einige andere verabschiedeten uns frühzeitig von der Gruppe, um ein paar entspannte Tage in
Chile zu verbringen.