Alle Fenster sind dunkel. Auch die Parkplatzbeleuchtung wird vor dem Morgengrauen nicht mehr gebraucht werden. Naja, eigentlich schon. Aber damit hat im Hotel Karlow im südlichen Polen
verständlicherweise niemand gerechnet. Denn wer soll um drei Uhr morgens hier noch anreisen? Das Hotel ist ausgebucht mit Läufern, die sich in einigen Stunden zur Startnummernausgabe des Marton
Gor Stolowych auf den Weg machen werden. Und die träumen längst von persönlichen Bestzeiten - oder auch einfach nur davon: Irgendwie diese 50 Km und 2150 Höhenmeter zu bewältigen. Bis auf zwei.
Und diese zwei stehen verzweifelt von der Parkplatzeinfahrt und versuchen den Portier mit heftigem Läuten wachzukriegen, damit auch sie wenigstens noch zu ein paar Stündchen Schlaf kommen. Diese
zwei, das sind: Meine Laufpartnerin Agnieszka aus Deutschland – und ich.
Endlich beginnt sich ein rotes Lämpchen zu drehen und das schwere Eisentor schiebt sich knirschend zur Seite - so als ob es ein Recht auf Nachtruhe reklamieren würde. Eine halbe Stunde später träumen auch wir. Und zwar davon, es rechtzeitig zur Startnummernausgabe zu schaffen.
Nach einem schnellen Frühstück und einem etwas längeren Anmarsch zum Startbereich holen wir unsere Startnummern und können noch eine gute Stunde bis zum Start um 10 Uhr gemütlich verweilen. Karlow befindet sich nahe der tschechischen Grenze. Landschaftlich kann man es beispielsweise mit dem Mühlviertel in Oberösterreich vergleichen: Alles sehr weitläufig und hügelig. Für den einzigen Österreicher am Start kein ungewohntes Bild und gute Laufbedingungen, denke ich mir. Vielleicht war das auch eine große Portion Zweckoptimismus. Denn meine Vorbereitung bestand aus acht Läufen in den letzten zwei Wochen. Aus meiner Sicht zwar sehr effektive Trainingsläufe, aber von einer guten Vorbereitung ist das weiter weg als Karlow vom Mühlviertel.
Eine gewisse Abenteuerlust und ein kurzfristig freigewordener Startplatz waren überzeugender als die Sorge, dass ich mich für meinen ersten Bergmarathon besser vorbereiten müsste. Und so kam es, dass ich mich um Punkt zehn Uhr in mitten von rund fünfhundert Läufern auf den Weg machte, den ausgebuchten Maraton Gor Stolowych erfolgreich zu finishen. Das Ganze war für mich von Anfang an ein Art Etappenlauf. Die erste Labstation kam nach acht Kilometern. Danach alle zehn Kilometer. Nur diese Distanzen interessierten mich. Zehn Kilometer traue ich mir einfach so gut wie immer zu. Das Ganze ein paar Mal hintereinander und vorbei ist es. Soweit meine mentale Taktik. Eine körperliche Taktik gab´s auch: Immer einen Fuß vor den anderen. Idealerweise laufend. Außer wenn´s zu steil wird, dann gehend. „Keep it simple“ also in Aktion! Gewürzt mit einer Prise gesunder Naivität und fertig war die Zuversicht. Genauso einfach hielt ich es auch mit meiner Ausstattung: Keine Uhr, keinen Laufgurt und keinen Trinkrucksack. Nur in der Bauchtasche vier Snickers und eine Red Bull Dose für den Notfall. Den Rest gibt’s bei den Labstationen. Das muss reichen.
Zugegeben, der Notfall trat relativ schnell ein und nach zwanzig Kilometer befand sich die Red Bull Dose zusammengefaltet in meiner Bauchtasche und der Snickers-Vorrat war halbiert. Dafür arbeitete ich mich von ganz hinten bis ins Mittelfeld vor. Vor allem bei den Anstiegen konnte ich die meisten Plätze gut machen, auf geraden Strecken halten und bergab musste ich wieder ein paar hergeben. Alles kein Grund zur Panik. Grundsätzlich ging´s sowieso nur ums Finishen. Obwohl mich unterwegs doch der Ehrgeiz packte, mich hier nicht unter meinen Möglichkeiten verkaufen zu wollen.
Das tat ich auch nicht. Der Streckenverlauf entsprach genau meinen Vorstellungen, auch wenn ich gar keine Vorstellung hatte. Denn das Streckenprofil im Vorfeld anzusehen, um zu wissen, wann welche Steigung kommt, war noch nie mein Ding. Das war bei meinem Ironman-Debüt 2012 so und das war auch bei meiner Aconcagua-Besteigung im Februar 2014 so. Je weniger Informationen, desto besser. Abgesehen vom Wetterbericht am Aconcagua natürlich. Aber ansonsten genügt mir der Fokus auf das unmittelbar vor mir Liegende. Ich muss nicht wissen, wie weit sich dieser Anstieg nun ziehen wird. Denn sobald ich eine besondere Anstrengung erwarte, wird es auch besonders anstrengend. Und dieses Gefühl möchte ich so lange wie möglich hinauszögern.
Von Labstation zu Labstation. Gehen, Laufen, ein bisschen Klettern. Trotz der körperlichen Belastung war ich begeistert von dieser Art des Laufens. Eins werden mit der Natur, in manchen Abschnitten bringt es das am besten auf den Punkt. In solchen Phasen fühlte ich mich im Flow. Fast schwebend. Wie ein Nebel, der schnell und lautlos zwischen all den Bäumen und Schluchten hindurchzieht. Nur die eigenen Atemgeräusche und manchmal ein Brennen in den Oberschenkeln machten mir wieder bewusst, dass ich ein Mensch mit begrenzter Energie bin. Die ich mir endlich besser einteilen sollte. Damit ich nicht auf einer Trage zurück ins Hotel schwebe.
Woran man bei einer so langen Strecke die ganze Zeit denkt? Anders als bei normalen Straßenmarathons muss man bei solchen Geländeläufen viel öfter vollkommen konzentriert sein. Abschweifende Gedanken können sich schnell rächen. Nur bei längeren Geraden war eine gedankliche Abwechslung möglich: Nämlich das Wiederholen meiner bescheidenen Polnischkenntnisse, um mich auf leichte Konversationen bei der nächsten Labstation vorzubereiten. Zehn Kilometer für einen halbwegs vernünftigen Satz war hierfür eh das Mindeste.
Es geht angenehm bergab. Weit kann es jetzt nicht mehr sein. Ich höre Autos. Jetzt kommt die Straße. Ein gutes Zeichen. Ein richtig gutes Zeichen! Endlich wieder auf Asphalt laufen. Wie sehr habe ich es vermisst. Es kommt mir vor wie auf Wolken. Wie gnädig von den Veranstaltern, den Schlussteil auf einer flachen Straße laufen zu lassen. Ich beschließe mein Tempo nochmals zu steigern. Erstens, weil es auf der Straße tatsächlich wieder besser geht. Und zweitens, weil es verdammt gut aussieht, in einem hohen Tempo ins Ziel einzulaufen.
Ins Ziel einzulaufen …. Ja wo ist es denn? Warum geht es plötzlich wieder bergauf? Warum endet da vorne die Straße? Und was ist das für ein Schild da vorne? Auf dem Schild stand 750 Meter mit einem Pfeil nach oben. Eigentlich nicht schlimm. Wenn da nicht die gnadenlos steilen Stufen beginnen würden. Ich wähle zwischen Laufen in kleinen Schritten, immer eine Stufe, oder Gehen in großen Schritten, immer zwei Stufen. Und entscheide mich für Gehen in kleinen Schritten, immer eine Stufe.
Wie lange sich doch 750 Meter ziehen können. Der Publikums-Applaus und die Lautsprecherdurchsagen werden lauter. Schön langsam komme ich wieder auf 1000 Höhenmeter – und ganz schön außer Atem. Die Stufen sind erledigt! Jetzt noch um diese Felswand herum und auf die Zielgerade einbiegen. Die Lautsprecherdurchsage gilt jetzt mir! Ich verstehe nicht viel, nur etwas mit „Austri“. Ich muss lächeln und werde mit einer Finisher-Medaille und einer Halben Bier in Empfang genommen. Die Zeit von 07 Stunden und 15 Minuten hat für den 153. Platz gereicht. Somit mein erster Lauf, bei dem ich im vorderen Drittel dabei war. Und ein weiteres sportliches Ereignis, auf das ich gerne zurückblicke.
Aber nicht alleine. Denn eine Stunde später erklomm auch Agnieszka die 660 Stufen und überquerte die Ziellinie. Zum Anstoßen waren meine Polnischkenntnisse aufs Neue gefordert: Jedno Piwo! Na zdrowie …

Kurz nach dem Start gab es einen kurzen Stau.

Aber dann ging es zügig weiter.

Erschöpft, aber glücklich im Ziel angekommen.
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